25 Jahre nach Tschernobyl

von Jürgen Kreller 2011

Teil I

Vor knapp einem Jahr stand ich in Kiew im Tschernobyl-Museum: 26. April 1986. Tschernobyl – die größte industrielle Katastrophe der Menschheit. 25 Jahre ist das bald her. Doch wie kann man daran erinnern? Wie zeigen, welches Leid mit dem Super-GAU verbunden war und ist?
Gestern landete ich mit einem NDR-Fernsehteam auf dem Flughafen Kiew. Von da aus ging es mit einem Kleinbus in die verbotene Zone, unsere erste Station für einen Film über das Leben nach Tschernobyl. Mit im Kleinbus sitzen der Fotograf Rüdiger Lubricht und zwei so genannte Liquidatoren: Der frühere Polizei-Oberst von Pripjat, Oleksandr Naumov, und der Kommandeur des Sonderbataillons 731, Mikola Bosyj. Seine Leute haben zwei Kilometer vom Kraftwerk entfernt die Hubschrauber beladen, die mit Sand und Blei die Reaktion im Reaktor stoppen sollten.
Nach gut drei Stunden kommen wir der verbotenen Zone näher. Ich merke, wie ich immer öfter auf den Geigerzähler sehe. Die Werte sind noch vergleichbar mit denen in Hamburg. Das Land ist von Schnee bedeckt, kahle Birken ziehen vorbei. Wir haben Tauwetter. Die Menschen in der Ukraine hoffen auf den Frühling. Kurz vor 18 Uhr erreichen wir den Schlagbaum, dahinter beginnt sie, die verbotene Zone.
30 Kilometer sind es noch bis zum Atomkraftwerk.
Bis wir die Stadt Tschernobyl erreichen, wird es dunkel. Auf der rechten Seite hinter Bäumen stehen Häuser. In keinem der Fenster brennt Licht. Ein paar Minuten, dann erreichen wir unsere Unterkunft. Brauner PVC-Boden, an den Wänden 80er-Jahre-Tapeten. Die Möbel hat man von irgendwoher zusammengetragen. Ich habe wohl noch nie an einem so absurden Ort zu Abend gegessen wie in der früheren Einsatzzentrale von Tschernobyl.
Der schlechte Schlaf liegt nicht nur am Quietschen des Bettes. Nach dem Frühstück machen wir uns auf.
Unser erstes Ziel ist der Reaktor. Zuerst tauchen riesige Bauruinen auf, die nicht fertig gestellten Blöcke V und VI. Dann ist plötzlich der Sarkophag zu sehen. Wir halten an, steigen aus. Jeder von uns will eigentlich gleich wieder weg, auf keinen Fall länger bleiben als irgendwie nötig. Nur schnell ein paar Bilder drehen, nur schnell ein paar Fragen stellen.
Mikola Bosyj ist zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder hier. Er erzählt von damals und in seinen gütigen Blick schleichen sich Tränen. Ob sie nur vom scharfen, kalten Wind kommen? Oleksandr Naumov scheint härter zu sein.

Sein Geigerzähler zeigt jetzt den 100-fachen Wert von Hamburg. Oder den dreifachen Wert, den wir auf dem Flug nach Kiew gemessen haben. Wir fangen an zu vergleichen, zu relativieren.
Ein paar Minuten entfernt: die evakuierte Stadt Pripjat. Die Fahrt führt über eine erhöhte Brücke. Von hier aus hat man freien Blick auf den Atommeiler. Alle Menschen, die vor 25 Jahren von hier aus auf den brennenden Reaktor geblickt haben, sollen mittlerweile tot sein.
Pripjat ist verlassen. Und trotzdem sieht man ab und zu ein Auto. Hier arbeiten noch Menschen, technisches Personal und Wachleute. Nach maximal sieben Tagen werden sie ausgetauscht. Vom Hoteldach aus sieht man das zwei Kilometer entfernte Atomkraftwerk. Davor: ein Plattenbau neben dem anderen. Etwa 50.000 Menschen haben hier zur Zeit des Unfalls gelebt. Erst 36 Stunden nach der Havarie wurden sie weggebracht.
Danach fahren wir zum Vergnügungspark von Pripjat. Das Gelände sei verseucht, sagt Oleksandr Naumov, so stark wie kaum ein anderer Platz in der Stadt. Hier steht das Riesenrad. Am 1. Mai 1986 sollte es die ersten Besucher in den Himmel heben. Jetzt kommen andere Besucher. Eine Buslandung mit Touristen, viele von ihnen aus Deutschland.

Teil II – Die Liquidatoren

Nikolaj Bosyj hält viele Grabreden. Sehr viele. Als Kommandeur des Sonderbataillons 731 hat er in Tschernobyl 353 Reservisten befehligt. Zu ihrem letzten großen Treffen vor drei Jahren kamen nur noch 84 von ihnen. 20 waren zu krank. Die meisten anderen – tot.
Nikolaj Bosyj spricht auch heute noch von “meinen Soldaten“, wenn er von den Rettungskräften, den so genannten Liquidatoren, erzählt. 25 Jahre nach dem Super-GAU fühlt er sich immer noch für sie verantwortlich, kämpft dafür, dass sie ein wenig mehr Geld kriegen oder endlich eine andere Wohnung. Vier von ihnen treffen wir in seinem Wohnzimmer. Vier Männer, die dazu beigetragen haben, eine drohende noch größere Katastrophe zu verhindern.
Viktor war damals 29. Er hat noch in der Nacht erfahren, dass er zum Reaktor muss. Nur für einen Tag, hieß es. In Uniform sind er und die anderen angekommen. Die Männer vom Sonderbataillon 731 mussten in der Nähe des Kraftwerks die Hubschrauber beladen, die Sand und Blei in den Reaktor fallen ließen. Damit – so die Hoffnung – sollte die Kettenreaktion in Block IV gestoppt werden. Doch die Temperatur wollte und wollte nicht sinken, sie mussten weitermachen. Die Leiter standen vor ihnen mit Tränen in den Augen: “Jungs, haltet durch!” Aus einem Tag wurde eine Woche. 16 Stunden pro Tag 70 Kilo schwere Sandsäcke herumwuchten. Bei voller Bestrahlung. Mykola war damals 22. Die Ingenieure des Havarie-Meilers hatten entdeckt, dass Kühlwasser in den Kern des Reaktors gelangen könnte.
Damit drohte eine Explosion, die auch die Blöcke I bis III in Tschernobyl hätte zerstören können, und damit eine Verseuchung von Moskau bis Prag. Die Liquidatoren wurden zum Appell gerufen. Als einer der ersten fünf trat Mykola vor. Freiwillig. Mit anderen robbte er sich zum Reaktorkern, schleifte die Rohre mit sich, mit denen das Kühlwasser schließlich abgepumpt werden konnte. Europa hat diesen Männern sehr viel zu verdanken.
Wolodymyr war damals 21. Er musste zusammen mit anderen die hoch radioaktiven Grafitbrocken weggeschaffen, die bei der Explosion aus dem Reaktor geschleudert worden waren. Das Grafit musste weg, damit der Sarkophag gebaut werden konnte. Die Männer haben zwischen Block III und Block IV die Brocken mit Spaten und Schaufeln zusammengetragen – ohne Schutzkleidung, ohne Gasmaske. Heute arbeitet Wolodymyr als Rechtsanwalt. Weder seinen Kunden noch seinen Kollegen erzählt er von seiner Arbeit als Liquidator. Es wäre ihm peinlich.
Anatoli war damals 30. Nach Tschernobyl war er schon so oft schwer krank, dass kein Arbeitgeber ihn noch nehmen will. Wie die anderen kriegt er eine kleine Behindertenrente. Anatoli sagt, die Situation sei paradox: “Viele denken, der Sarkophag ist drauf, die Tragödie ist zu Ende – aber für uns dauert Tschernobyl an.” Eine Woche lang mussten sie damals in Zelten in der verstrahlten Kleidung schlafen, es gab nichts anderes. Mit ihm im Zelt war damals Oleksandr. Kurz vor Sylvester ist er gestorben. Und Nikolaj Bosyj hat die Grabrede gehalten.

Teil III – Die Kinder

Vergangener Freitag. Abschluss der Reise der niedersächsischen Stiftung „Kinder von Tschernobyl“ bei der weißrussischen „Freundschaftsgesellschaft“ in Minsk. In das Treffen platzt die Nachricht: In Japan brennt ein Atomkraftwerk. Alle sind fassungslos. Alle sind sprachlos. Seither haben sich die Ereignisse in Japan überschlagen. Niemand kann abschätzen, was noch passieren wird. Die ganze Welt schaut in diesen Tagen nach Japan – und auch nach Tschernobyl.
Eigentlich wollten wir 25 Jahre nach Tschernobyl kurz vor dem Jahrestag im April auf die Katastrophe in der Ukraine blicken. Auf den Reaktor, auf die Liquidatoren, auf die Menschen im Katastrophengebiet. Eine lange geplante Reise. Doch jetzt muss es sofort passieren. Wir gingen nach unserer Rückkehr am Samstag sofort in den Schnitt. Am Mittwoch soll die Reportage fertig sein, um 22:35 Uhr im NDR Fernsehen laufen. Ein Schwerpunkt sind die Kinder von Tschernobyl. Nach der nuklearen Katastrophe haben sie besonders stark gelitten.
Zum Beispiel Natalia. Sie war damals zwei Jahre alt, hat zwei Jahre bei ihrer Oma im verstrahlten Gebiet gelebt. Wir treffen sie zufällig in der nationalen weißrussischen Kinderkrebsklinik in Minsk. An diesem Tag wird sie hier zum 182. Mal untersucht. Unfassbar. Sie leidet an einem erworbenen Immundefizit. Jede kleine Erkältung wird für sie zum großen Problem. Eigene Kinder wird sie nie bekommen können.
Zum Beispiel Anja. Sie kam Jahre nach Tschernobyl auf die Welt. Ihr fehlen mehrere Rippen. Die 14-jährige sitzt in sich versunken am Rand ihres Bettes. Sie kämpft ständig mit Lungenentzündungen. Ihre Ärztin im Kinder-Krankenhaus in Gomel sagt, es sei nicht eindeutig nachweisbar, dass Anjas Leiden auf Tschernobyl zurückzuführen seien. Und zugleich weist die Ärztin darauf hin, dass Anja im Katastrophengebiet geboren ist. Nicht in Russland, nicht im weit entfernten Kasachstan.
Zum Beispiel Rita. Vor drei Jahren wurde bei ihr ein Nierentumor festgestellt. Kurz danach war klar, dass viele Organe von Tumoren befallen sind. Ihre Mutter hat damals nach der Katastrophe von Tschernobyl Häuser in der Region auf Verstrahlung überprüft, damit die Bewohner eine Entschädigung bekommen können. Im Internet hat sie vor kurzem gelesen, dass es in Deutschland eine Behandlungsmöglichkeit für ihre Tochter geben könnte. Sie bittet Professor Heyo Eckel von der niedersächsischen Landesstiftung bei seinem Besuch in der Klinik um Hilfe. Der sichert ihr zu, sich in Deutschland zu erkundigen. Er will alles tun, um ihr zu helfen.
Bei allen diesen Fällen ist eine direkte Verbindung zu Tschernobyl wissenschaftlich sehr schwer nachweisbar. Das sagen die Ärzte. Das sagen die Wissenschaftler. Doch eines ist klar: Vor Tschernobyl waren die Krebsraten in der Ukraine und in Weißrussland in etwa vergleichbar mit denen in Westeuropa. Nach der Katastrophe waren sie um ein Vielfaches höher.